Freitag, der 13. Da wir in China sind, ist unser Aberglaube außer Kraft. Für die Chinesen ist die Acht eine Unglückszahl. Gerade fährt das Schiff fast lautlos durch die Hexenschlucht, die schönste, wie es heißt. Steile, mit niedrigen Büschen bewachsene Hänge aus Sandstein an beiden Seiten, ab und zu Häuser, alleinstehend oder in Gruppen, die meisten neu. Die Bewohner der überfluteten Dörfer durften sie mit Hilfe von Kompensationsgeldern bauen. Wenn in ersten Etage die Fenster nicht eingebaut sind, heißt es, dann sind die Kinder nicht eingezogen, sondern leben in einer Stadt. Unten im Tal war die Erde sehr fruchtbar, jetzt, in den Höhen, nicht. Die Bauern können nicht mehr viel anpflanzen. Eine Weile sitze ich ganz allein hier im 5. Stock auf dem Vorderdeck mit Blick auf die Berghänge. Mir ist, als spürte ich die Trauer der verschwundenen Landschaft. Gestern, in dem Dokumentarfilm über den 3 Schluchten Staudamm, sagte eine Frau, es ginge für China darum, mit seiner Jahrtausende alten Kultur zu leben oder sie zu leugnen. Ganz so einfach scheint es mir nicht. Überall wird versucht, die Zerstörungen durch die Kulturrevolution zum beseitigen.
Nun taucht vor uns eine ganze Stadt auf, auch neugebaut, viele Wolkenkratzer, viele Fabriken, Fungjie, 80 tausend Einwohner, erklärt Herr Tschau, der uns diesen Platz vorne auf dem Schiff empfohlen hat. Hier sind wenige Mitreisende. Auch ein guter Standort für Achim, der natürlich fotografiert.
Nach dem Mittagessen kommt Herr Tschau wieder an unseren Tisch, um einen Kaffee zu trinken. Er isst nie mit uns. Kommt immer nach den Mahlzeiten, um mit uns zu reden. Heute über seine Geschichte. Er ist 1960 in Wuhan geboren, in den Hungerjahren, seine Mutter hat während der Schwangerschaft sehr gelitten, auch bis 1978, erzählt er, sei alles sehr knapp gewesen, 1 Pfund Fleisch im Monat pro Person, 1 1/2 Meter Stoff für Kleidung im Jahr. Wenn er jetzt seiner Tochter davon erzählen wolle, würde sie sich die Ohren zuhalten. Aber um die Chinesen heute zu verstehen, müsse man daran denken, was sie erlitten haben. Und an das Drama der Kulturrevolution. Als ich ihn frage, ob er Rotgardist gewesen sei, antwortet er, er sei noch zu klein gewesen. Es klingt ausweichend. Ich wage nicht mehr, ihn zu fragen, was die älteren Brüder gemacht haben.
Morgens und nachmittags Ausflüge. Generalstabsmäßig inszeniert. Man trifft sich im Speisesaal. Jeder an dem ihm zugeteilten Tisch. Alle Tische haben Nummern. Eine Reiseleiterin mit Fähnchen erscheint. Die ihr zugeteilten Nummern werden aufgerufen, die dazugehörigen Leute stellen sich in einer Reihe auf, los geht’s. Man hat das von kleinauf geübt. Trotzdem wandern alle bald laut schwatzend nebeneinander. Es hört sich eine als wären mehrere Scharen Gänse unterwegs.
Wir bekommen, weil wir anders als die Bayern und Österreicher an unserem Tisch, jeden Ausflug mitmachen, einen eigenen „Guide“. Diesen Nachmittag eine kleine, muntere Chinese, Ich nenne sie Nicole. Sie führt uns abseits der Massen zur Stadt des weißen Kaisers, eine Tempelanlage auf einer Insel im Yangzi gelegen, zu erreichen von der Stadt Fengji aus über eine Brücke, vor dem Bau des Staudamms nur mit Booten. Sowohl die Stadt als auch die Tempelanlage haben historische und mythologische Bedeutung in Chinas Geschichte. Entsprechend hat sich auch Mao neben alten Herrschern und Dichtern mit Gedichten verewigt. Interessanter als das waren mir die Erzählungen von Nicole, die diesen Job als Reiseleiterin sehr engagiert machte, obwohl sie lieber als Lehrerin in Chongqing arbeiten würde (ihr Beruf) und nicht jeden Tag zweimal 324 Treppen hoch und 324 Treppen runter zu der Anlage wandern würde, in schwüler Hitze oder bei Regen. Sie gehört zu einer Minderheit, der Gruppe der Wu, ihre Stadt wurde überflutet und über 200 Meter höher in den Bergen neu aufgebaut. Der Vater arbeitet als Lehrer, die Mutter als Krankenschwester, sie hat die Tätigkeit als Lehrerin vorübergehend aufgegeben, um die alten Großeltern mit zu pflegen. Als einzige Tochter ist das ihre Pflicht. Sie hat zwar Business studiert und Englisch, spricht ausgezeichnet amerikanisches Englisch, liebt aber Literatur, europäische und chinesische, sagt mir einige Gedichte ins Aufnahmegerät und schwärmt von Shakespeare, den sie leider nur in der Übersetzung gelesen hat. Wie sie Maos Gedichte hier fände, frage ich. Na, ja, sagt sie. Einige sind okay, aber sie mag seinen Geist nicht. Wieso? Er sei ihr zu kämpferisch. Sie mag Tschu en lai. Er sei sehr gebildet gewesen, ein „humble“ man, ein demütiger Mensch, Mao wäre ein Bauerssohn, und hätte vieles sehr schlecht gemacht. Die Kulturrevolution z. B. Ihre Reden überraschen mich, vor 15 Jahren haben wir nie so kritische Worte von den Studenten gehört, mit denen wir sprachen. Ob viele so denken würden wie sie? Jeder denkt anders, sagt sie weise. Sie ist 27 Jahre alt, verdient mit dem Touristenjob 2000 Yuan (290 Euro) im Monat, als Lehrerin würde sie 5000-6000 Yuan bekommen. Wären wir die Treppen hinauf und hinuntersteigen und sie auch ihr Touriprogramm mit Informationen über die Gebäude ect. abspult, gähnt sie manchmal ungeniert. Oder lächelt einer Kollegin zu, die vor einem in Stein geritztem Gedicht steht und ihrer Gruppe aus 30 Chinesen über Mikrophon mit müdem Blick was weiß ich erzählt. Chinesen möchte ich nicht führen, sagt Nicole, es sind immer so viele, sie sind immer so laut. Ich liebe auch die Natur. Hier ist einer meiner Lieblingsorte, wenn die Touristen nicht da sind.
Wie viele der Einheimischen so denken? Und stehen an den Warenständen, an denen wir auf dem Weg zu den Sehenswürdigkeiten immer vorbei müssen, preisen ihre Waren mehr oder weniger lauthals an, packen zu guter Letzt ihre Plastikplanen lustlos darüber, weil sie wieder einmal zu wenig verdient haben. Vor 15 Jahren haben wir mehr Bettler gesehen, das fällt uns auf, als wir an einem Mann vorbeikommen, dessen Arme verstümmelt sind und der uns eine Art Hut entgegenhält.