22. Mai Qingdao

Nach den morgendlichen Wanderungen liegen wir erschöpft auf den Betten unserer neuen und letzten Unterkunft, dem Castle Boutique Hotel. Blick direkt auf eine braun-beige-hellblau gestreifte Tapete, weiße Imitat-Chippendale Kommoden nebst Spiegel. Rechts zum Fenster hinaus (braun-weißgestreifte Gardinen und Tüllvorhänge haben wir uns erlaubt, zurückzuziehen) schaut man auf einen der Hügel Qingdaos, auf dem ein vierstöckiger Gebäude aus Grün in den Himmel ragt. Nach der schlichten Hotelvariante nun das kitschige 60er Jahre Ambiete, inklusive Kissen mit den vier Beatleköpfen und Lampen mit lilafarbenen Schirmen. Mehr Europa als China. Das entspricht wieder einmal der Umgebung, dem Zentrum des ehemaligen deutschen Schutzgebiets mit ehemaligen Gouverneurspalast, alten Villen, der Gouvernementsverwaltung, dem alten Gefängnis ect. Die Chinesen scheinen alles zu mögen, nutzen es in ihrem Sinne, viele Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Und wir sind hier mal wieder die einzigen Langnasen. Im Hotel und unterwegs.
Gestern Abend gen Meer durch das Wohngebiet gewandert. Neben den meist heruntergekommenen Villen ebenso ungepflegte Wohnblocks, durch viel Grün und Kiefern und Pinien am Straßenrand trotzdem mit Charme. An der Uferpromenade mit Massen Flannierenden an imposanten Hotels vorbei, das ehemalige Prinz Heinrich, in dem wir 1999 3 Tage wohnten, ist inzwischen das bescheidenste. Die Hochhauskulisse dahinter, die Neustadt, ist erst im letzten Jahrzehnt entstanden und auch der Hafen seitdem zum zweitgrößten Chinas ausgebaut. 2 Millionen Einwohner hat das Zentrum, 9 Millionen Qingdao mit Umland. Auf der Suche nach einem Restaurant landen wir in einer Seitenstraße. Die meisten der Straßenlokale bieten Fische, Muscheln, Kraken, auch Schildkröten in Wasserbassins lebendig zur Auswahl feil. Wir lassen uns an einen Tisch unter einer Platane nieder, Achim wählt sich mutig ein Muschelgericht, ich wie meist nur Gemüse, Nachbarn lassen sich ganze Barsche aus den Wasserbecken fischen, totschlagen und eine Viertelstunde später servieren. Sollten wir das nicht auch mal versuchen? Oder -sinniere ich- lieber zu reinen Vegetariern werden? Sinnvoll wäre es schon, meint Achim, aber nicht ganz nach seinem Geschmack. Und ich will keine Dogmatikerin sein.

Heute morgen nun von Geschichts- und Glaubensnostalgie berührt und angerührt. Wir wanderten Richtung Gouverneurspalast unweit des Hotels, die Glocken der ehemaligen evangelischen Kirche läuten fremd und heimatlich vertraut, folgten den Klängen und betraten mit Hunderten Chinesen die 1908 von dem deutschen Architekten Curt Rothkegel gebaute evangelische Kirche, seit 1980 „internationale Kirche“ genannt. Der schlichte Raum mit den alten Jugendstillampen und -Fenstern (nur wenige große mussten erneuert werden) bietet 1000 Menschen Platz und ist schon voll besetzt. Kamen damals, als meine Mutter in den 30er Jahren hier Urlaub machte, auch so viele zum Sonntagsgottesdienst? Und wer predigte? Bestimmt kein Deutscher, Qingdao gehörte seit 1922 wieder den Chinesen. Allerdings nur bis 1938, da eroberten es die Japaner, wie schon 1914-1922. Mit Inbrunst singen und beten die Gläubigen heute, natürlich in Chinesisch, und lauschen der halbstündigen Predigt des lebhaft von der Kanzel herab dozierenden Pastors. Gerne würde ich wissen, was da verkündet wird und warum es Jung und Alt, Männer und Frauen, Wohlhabende, die mit teuren Autos vorgefahren sind, und Ärmere, die Zu Fuß kommen, anspricht. Von außen wirkt die von „uns“ Deutschen errichtete Kirche wie eine mittelalterlich-wilhelminische Trutzkirche, die sich in Feindesland gegen Angreifer mit dicken Steinmauern, Holztoren und vergitterten Fenstern rüstet. Aber wir müssen uns über den vergangenen Kolonialismus nicht mehr schämen. Das Gebäude ist zum chinesischen Kulturgut erklärt – wie andere ehemalige deutsche Bauten ringsum.
Der Signalturm oben auf dem Hügel z.B. den wir mit vielen anderen Leuten auf gut gepflegten Wegen, durch Pinien-, Kiefern-, Rubinienwäldern hinaufwandern, ist zur Touristenattraktion mutiert. Wie auch der ehemalige deutsche Gouverneurspalast, im Stil der Kirche ähnelnd, auf mächtigen Quadern erbaut, rheinische Burg und Festung zugleich, mit Jugendstillüstern und wilhelmischen Mobiliar ausgestattet. Die kommunistsische Elite, Mao, Tschau en lai, Deng tsiao Ping ect. scheint der deutsche Kolonialprotz gefallen zu haben, mehrmals hat man hier getagt und genächtigt. Jetzt ist es Ziel des organisierten Tourismus.

Nachdem wir uns ausgeruht und einen Lamatempel aus dem 15. Jahrhundert und das ehemalige deutsche Gefängnis besichtigt haben, wollen wir jedenfalls einen oberflächlichen Einruck des zeitgenössischen Qingtaus gewinnen. Wir lassen uns den Strand entlang Richtung Osten fahren. Dort wurden die Segelwettwerbe der olympischen Spiele 2008 in Beijing ausgetragen und ein neuer Stadtteil gebaut, mit einer breiten Strandpromenade für die Allgemeinheit, einer Verkaufsmeile für Touristen, dahinter mit hohen Zäunen nebst Stacheldraht und Pinienbüschen versteckt die Villen der Wohlhabenden im Stil der alten Kolonialbauten. Und hinter ihnen breite Straßen und die Skyscraper der internationalen Geschäftswelt. Wir promenieren natürlich mit dem Volk, bewundern einige Jachten, die am Hafen festgetäut sind, wundern uns über die Masse der Straßenhändler, -Sänger und Bettler, die mittels ihrer Darbietungen vom sichtbaren Wohlstand einen Anteil ergattern wollen. Aus Luxuslimousinen, viele deutscher Herkunft, springen junge Reiche für schnelle Selfies vor der Meereskulisse und Drachenverkäufer animieren Eltern, mit ihren Kindern Drachen steigen zu lassen. Sonntagnachmittadidylle. überall stehen selbtverständlich Überwachungskameras und Polizeiwagen herum. Unser vorletzter Tag in China. Wir werden von Qingdao direkt nach Frankfurt fliegen können. Die Verbindungen von chinesischer und deutscher Geschäftswelt sind postkolonial offensichtlich gut.
P.S. Beim Blättern im Internet stelle ich fest, dass die von mir beschriebene Promenade nach der 4. Mai Bewegung 1919 benannt wurde, eine Bewegung, mit der Chinesen gegen die Friedensvertäge von Versaille protestierten, die ihnen Qindao nach der Eroberung durch die Japaner nicht zusprachen. Und: Qingdau wird als Seglerparadies angepriesen.

Ein Gedanke zu „22. Mai Qingdao“

  1. Just a short note to say hello. I’ve enjoyed reading your blog and look forward to discussing your trip when you return.

    Jamie

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