Alle Beiträge von Hilke Veth

Zurück und Dank

Seit drei Wochen zurück, angekommen im Alltag, unter dem sonnigen, trüben, regnerischen, gewittrigen Sommerhimmel Hamburgs. Keinmal auf einer Wiese gelegen, aber am Elbdeich spazieren gegangen und im See geschwommen. Habe begonnen, das aufgezeichnete Tonmaterial auszuwerten. Fahre Samstag ins Archiv von StuDeo, Studienwerk Deutsches Leben in Ostasien, das von sog. Chinadeutschen ins Leben gerufen und betrieben wird, werde Erzählungen und Biographien und Fotos aus dem 20sten Jahrhundert sichten, weiteres Hintergrundmaterial für meine Geschichte. Dann beginnt die Schreibarbeit für das Hörspielprojekt „Shanghai-Love. Eine Spurensuche.“ Die Reise – das sei hier erwähnt – wude mir möglich durch ein Stipendium der Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Programms „Grenzgänger China-Deutschland“.

23. Mai Qingdao

Uns begrüßt frühmorgens, als wir aus dem Hotel treten, das typische Hamburger Nieselwetter. Trotzdem sollen unsere Pläne für den Tag nicht geändert werden. Wir wandern in der Altstadt umher, viel erinnern wir nicht mehr von unserer Qingdao-Reise 1999, aber dass das Fachwerk im alten Bahnhofsturm wegrestauriert wurde, fällt uns doch auf. Wir lassen uns noch zu Strand Nr. 2 mit einer Taxe fahren wie schon 1999, auch hier hat sich vieles getan, mit neuen Unterständen für die Kioske, einer breiteren Straße ect. Nur das Meeresrauschen könnte dem von damals gleichen. Vom Wasser her ziehen Nebelschwaden heran, die das Umfeld in helles Grau hüllen. Achim unternimmt mutig einen Schwimmversuch bei 16 Grad Wassertemperatur, einige Chinesen kraulen sogar mehrere Bahnen zwischen den ausgelegten Haifischnetzen. Ich betrachte das an der Strandstraße liegende ehemalige deutsche Hotel, in dem meine Mutter möglicherweise in ihren Ferien unterkam, und sinniere bei Wellenrauschen, was mir die Reise gebracht hat. Viele Eindrücke, einige Erkenntnisse, vielleicht. Ich kanns (noch) nicht genau formulieren. Nur einer Sache bin ich mir sicher: die Essensgerüche, die einem fast überall in die Nase ziehen, morgens früh in den Hotels, tagsüber auf den meisten kleineren Straßen und abends in sehr vielen Restaurants, und sogar hier am Strand, sind mir unerträglich geworden. Nichts mehr von Heimatgefühl wie damals auf der ersten Reise, als ich aus dem Ruijin Hotelmin Shanghai trat und mich wie zu Hause fühlte. Im Gegenteil: unangenehm berührt von dieser Nudelsuppen-Sojasoßen-faule-Eier-Geruchswelle stelle ich mir vor, ich läge auf einer grünen, sommerlich duftenden Wiese, irgendwo vor den Toren Hamburgs. Vielleicht liege ich, liegen wir da wirklich – in einigen Tagen, nach unserer Rückkehr.

22. Mai Qingdao

Nach den morgendlichen Wanderungen liegen wir erschöpft auf den Betten unserer neuen und letzten Unterkunft, dem Castle Boutique Hotel. Blick direkt auf eine braun-beige-hellblau gestreifte Tapete, weiße Imitat-Chippendale Kommoden nebst Spiegel. Rechts zum Fenster hinaus (braun-weißgestreifte Gardinen und Tüllvorhänge haben wir uns erlaubt, zurückzuziehen) schaut man auf einen der Hügel Qingdaos, auf dem ein vierstöckiger Gebäude aus Grün in den Himmel ragt. Nach der schlichten Hotelvariante nun das kitschige 60er Jahre Ambiete, inklusive Kissen mit den vier Beatleköpfen und Lampen mit lilafarbenen Schirmen. Mehr Europa als China. Das entspricht wieder einmal der Umgebung, dem Zentrum des ehemaligen deutschen Schutzgebiets mit ehemaligen Gouverneurspalast, alten Villen, der Gouvernementsverwaltung, dem alten Gefängnis ect. Die Chinesen scheinen alles zu mögen, nutzen es in ihrem Sinne, viele Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Und wir sind hier mal wieder die einzigen Langnasen. Im Hotel und unterwegs.
Gestern Abend gen Meer durch das Wohngebiet gewandert. Neben den meist heruntergekommenen Villen ebenso ungepflegte Wohnblocks, durch viel Grün und Kiefern und Pinien am Straßenrand trotzdem mit Charme. An der Uferpromenade mit Massen Flannierenden an imposanten Hotels vorbei, das ehemalige Prinz Heinrich, in dem wir 1999 3 Tage wohnten, ist inzwischen das bescheidenste. Die Hochhauskulisse dahinter, die Neustadt, ist erst im letzten Jahrzehnt entstanden und auch der Hafen seitdem zum zweitgrößten Chinas ausgebaut. 2 Millionen Einwohner hat das Zentrum, 9 Millionen Qingdao mit Umland. Auf der Suche nach einem Restaurant landen wir in einer Seitenstraße. Die meisten der Straßenlokale bieten Fische, Muscheln, Kraken, auch Schildkröten in Wasserbassins lebendig zur Auswahl feil. Wir lassen uns an einen Tisch unter einer Platane nieder, Achim wählt sich mutig ein Muschelgericht, ich wie meist nur Gemüse, Nachbarn lassen sich ganze Barsche aus den Wasserbecken fischen, totschlagen und eine Viertelstunde später servieren. Sollten wir das nicht auch mal versuchen? Oder -sinniere ich- lieber zu reinen Vegetariern werden? Sinnvoll wäre es schon, meint Achim, aber nicht ganz nach seinem Geschmack. Und ich will keine Dogmatikerin sein.

Heute morgen nun von Geschichts- und Glaubensnostalgie berührt und angerührt. Wir wanderten Richtung Gouverneurspalast unweit des Hotels, die Glocken der ehemaligen evangelischen Kirche läuten fremd und heimatlich vertraut, folgten den Klängen und betraten mit Hunderten Chinesen die 1908 von dem deutschen Architekten Curt Rothkegel gebaute evangelische Kirche, seit 1980 „internationale Kirche“ genannt. Der schlichte Raum mit den alten Jugendstillampen und -Fenstern (nur wenige große mussten erneuert werden) bietet 1000 Menschen Platz und ist schon voll besetzt. Kamen damals, als meine Mutter in den 30er Jahren hier Urlaub machte, auch so viele zum Sonntagsgottesdienst? Und wer predigte? Bestimmt kein Deutscher, Qingdao gehörte seit 1922 wieder den Chinesen. Allerdings nur bis 1938, da eroberten es die Japaner, wie schon 1914-1922. Mit Inbrunst singen und beten die Gläubigen heute, natürlich in Chinesisch, und lauschen der halbstündigen Predigt des lebhaft von der Kanzel herab dozierenden Pastors. Gerne würde ich wissen, was da verkündet wird und warum es Jung und Alt, Männer und Frauen, Wohlhabende, die mit teuren Autos vorgefahren sind, und Ärmere, die Zu Fuß kommen, anspricht. Von außen wirkt die von „uns“ Deutschen errichtete Kirche wie eine mittelalterlich-wilhelminische Trutzkirche, die sich in Feindesland gegen Angreifer mit dicken Steinmauern, Holztoren und vergitterten Fenstern rüstet. Aber wir müssen uns über den vergangenen Kolonialismus nicht mehr schämen. Das Gebäude ist zum chinesischen Kulturgut erklärt – wie andere ehemalige deutsche Bauten ringsum.
Der Signalturm oben auf dem Hügel z.B. den wir mit vielen anderen Leuten auf gut gepflegten Wegen, durch Pinien-, Kiefern-, Rubinienwäldern hinaufwandern, ist zur Touristenattraktion mutiert. Wie auch der ehemalige deutsche Gouverneurspalast, im Stil der Kirche ähnelnd, auf mächtigen Quadern erbaut, rheinische Burg und Festung zugleich, mit Jugendstillüstern und wilhelmischen Mobiliar ausgestattet. Die kommunistsische Elite, Mao, Tschau en lai, Deng tsiao Ping ect. scheint der deutsche Kolonialprotz gefallen zu haben, mehrmals hat man hier getagt und genächtigt. Jetzt ist es Ziel des organisierten Tourismus.

Nachdem wir uns ausgeruht und einen Lamatempel aus dem 15. Jahrhundert und das ehemalige deutsche Gefängnis besichtigt haben, wollen wir jedenfalls einen oberflächlichen Einruck des zeitgenössischen Qingtaus gewinnen. Wir lassen uns den Strand entlang Richtung Osten fahren. Dort wurden die Segelwettwerbe der olympischen Spiele 2008 in Beijing ausgetragen und ein neuer Stadtteil gebaut, mit einer breiten Strandpromenade für die Allgemeinheit, einer Verkaufsmeile für Touristen, dahinter mit hohen Zäunen nebst Stacheldraht und Pinienbüschen versteckt die Villen der Wohlhabenden im Stil der alten Kolonialbauten. Und hinter ihnen breite Straßen und die Skyscraper der internationalen Geschäftswelt. Wir promenieren natürlich mit dem Volk, bewundern einige Jachten, die am Hafen festgetäut sind, wundern uns über die Masse der Straßenhändler, -Sänger und Bettler, die mittels ihrer Darbietungen vom sichtbaren Wohlstand einen Anteil ergattern wollen. Aus Luxuslimousinen, viele deutscher Herkunft, springen junge Reiche für schnelle Selfies vor der Meereskulisse und Drachenverkäufer animieren Eltern, mit ihren Kindern Drachen steigen zu lassen. Sonntagnachmittadidylle. überall stehen selbtverständlich Überwachungskameras und Polizeiwagen herum. Unser vorletzter Tag in China. Wir werden von Qingdao direkt nach Frankfurt fliegen können. Die Verbindungen von chinesischer und deutscher Geschäftswelt sind postkolonial offensichtlich gut.
P.S. Beim Blättern im Internet stelle ich fest, dass die von mir beschriebene Promenade nach der 4. Mai Bewegung 1919 benannt wurde, eine Bewegung, mit der Chinesen gegen die Friedensvertäge von Versaille protestierten, die ihnen Qindao nach der Eroberung durch die Japaner nicht zusprachen. Und: Qingdau wird als Seglerparadies angepriesen.

21. Mai, auf der Fahrt nach Qingdao

Abgeholt von dem sehr gut Deutsch sprechenden Thomas, ein junger Reiseleiter, pünktlich um 9 Uhr. Alle Reiseleiter waren sehr pünktlich und hilfsbereit. So auch dieser. Unser Chauffeur, wieder Herr Chang, der uns auch die Umgebung der Pappelinsel gezeigt hat, fährt uns. Beide erschrecken, als Achim die Geschichte mit dem Taxifahrer erzählt. Das müsste man der Polizei melden, meint Thomas, so etwas habe ich in den drei Jahren meiner Tätigkeit noch nie gehört. Herr Chang erklärt sich bereit, zu prüfen, ob Kameras in der Gegend standen und will dann das betreffende Taxiunternehmen kontaktieren. So ein Mensch muss bestraft werden. Wir wiegeln ab. Danke, cixie cixie, schon gut, keine Umstände. Merken, wie sehr sich die beiden für ihren Landsmann schämen. Zum Trost hilft Herr Chang, unsere Koffer in den Bahnhof bis zu Gleis zu rollen. Das hat bisher noch kein Chauffeur gemacht. Eh wir vor den Eingang zum Gleis kommen, werden wir drei Durchleuchtunsgeräte passieren. Da mal wieder Massen unterwegs sind, kommt es immer wieder zu Staus. Auch vor dem Gleiseingang eine riesige Schlange. Hier die vierte Kontrolle, Fahrscheine mit Ausweis. Achim stellt -ohne mein Wissen – die Kontrolleurin auf die Probe, hat mir seinen Fahrschein ( mit seinem Namen! Klar) gegeben. Es wird natürlich bemerkt!
Es gibt keine Schwarzfahrer bei uns, hat Thomas stolz erklärt. Und seit so kontrolliert wird, gibt’s hier auch keine Verbrennungen von Tibetanern mehr. Das war früher das Problem.
Jetzt haben wir schon den ersten Halt hinter uns. Tianjin. Plattes Land, viele Baumplantagen ( so was habe ich bei uns nie gesehen) und Felder mit Grünpflanzen, dazwischen Ansammlungen von niedrigen Häusern immer an einer Straße. Rote Fahnen flattern am Straßenanfang.
Später Industrieanlagen, viele Kohlekraftwerke, alt und neu, dicker Smog, dann wieder Landwirtschaft, so weit der Blick reicht Plastik-Gewächshäuser, zwischendrin einstöckige Häuser mit Walmdächern, wohl für die Landarbeiter, sie sind nicht viel größer als ein Campingwagen. In meinem Bücherregal steht – ungelesen – ein dickes Buch über die Lage der chinesischen Bauern.
Sie muss nicht sehr gut sein, soweit ich den Klappentext erinnere – der oberflächliche Blick aus dem Zugfenster heraus bestätigt die Erinnerung.

19. Mai, Rückblick

Ein ereignisreicher, anstrengender Tag. Und nicht nur das….
Morgens leicht gerädert vom harten Kang/Futonbett und der Klimaanlage wandern wir nach dem Frühstück durch unseren Richtung Innenstadt. Der Himmel ist klar, die Sonne scheint, es wird über 30 Grad warm, war auf dem Wetterfoto auf einem Bildschirm im Hotel zu lesen. Wir versuchen, im Schatten zu gehen. Kommen an offenen Türen vorbei, schauen in Werkstätten, vermüllte Wohnräume, Fahrradlager, registrieren wieder einmal, dass es überall öffentliche Toiletten gibt, meistens von Toilettenfrauen bzw. Männern betreut, meistens Stehklos, recht sauber, Papier ist mitzubringen, alles andere kostenlos, und dass in den Gassen viele Autos geparkt werden, mit Pappen als Sonnenschutz an den Scheiben und vor die Rädern. Bald erklingeln Fahrradrikscha- Fahrer den Weg für ihre „Kutschen“, in denen sie zwei Personen befördern können – als besonderer Ausflug für Touristen angeboten und genutzt.
Wir nähern uns einem beliebten Touristenziel: Der Residenz des Prinzen Gong, eins der größten privaten Anwesen in Beijing, mit seinen zahllosen Gemächern, Innenhöfen, Gärten, Bäumen, Hügeln, Grotten ein weitläufiges, gut erhaltenes und gepflegtes Gelände,das Einblick in die Lebensgewohnheiten der obersten Hofbeamten der Qing-Dynastie gibt. Kaum zu glauben:als zweite Lektüre habe ich einen der Klassiker der chinesischen Literatur eingepackt: Der Traum der roten Kammer ( Übersetzung Franz Kuhn, erschienen im Inselverlag 1948, aus dem Bücherregal der Eltern). Die Geschichte soll in diesem Palast spielen! Ich lese schon seit Lushan darin, meistens nur wenige Seiten vor dem Einschlafen, meine Vorstellungen werden in die Realität erlebbar. Nur wenige Räumlichkeiten sind im Stil der Zeit möbliert, einige stellen in Vitrinen Kostbarkeiten aus, andere werden als Shops genutzt. Nach dem Besuch mit Taxi zu der Stelle, wo wir mit dem Fahrer von Chinatours verabredet sind. Er wird uns in die Gegend bringen, in der auf der „Pappelinsel“ ein Herr Hundhausen bis 1954 seinen Pappelinselverlag betrieb, chinesische Gedichte, Märchen und Erzählungen in Deutsch publizierte, aber auch eigene Einfälle und Notizen (mehrere der Bücher im Regal der Eltern). Ich nehme an,dass mein Vater ihn bei seiner Beijing-Reise Mitte der 30er Jahre besuchte. Renate Jährling von StuDeO (Studienwerk deutsches Leben in Ostasien) hat mir Unterlagen zur Lage der Insel zugeschickt, sie soll sich außerhalb der westlichen Stadtmauern befinden, die Anfang der 50er Jahre für breite Straßen abgerissen wurden. Abriss und Neubau hat hier seitdem wohl oft gewirkt: wir wandern durch gepflegte Parkanlagen mit Weiden an einem ewig langen Kanal, mit Kaimauern, die am breiten Rand Fischern Sitzplatz bieten. Alles wird wohl erst zur Olympiade 2008 angelegt worden sein. Auch die 6 spurige Schnellstraße daneben und die meisten der Hochhäuser drumherum zeugen nicht von hohem Alter. Wir biegen ab, wandern über eine Brücke, wandern an einem schlafenden Alten vorbei, der an seinem Fahrrad einen Beutel voller kleiner Käfige hängen hat, in denen Grillen laut gegen den Verkehrslärm ansingen, wandern weiter durch recht gepflegt wirkende Wohn- und Geschäftsviertel, nicht nur auf der Suche nach einer Pappelinsel, sondern nach einem Lokal oder Imbiss, wo wir die asphaltmüden Füße ausruhen und den Hunger stillen können. Vergeblich. Die Vorstellung, Hundhausens Paradies finden zu können, geben wir bald auf. Wir trösten ihn und uns mit dem Gedanken, dass in der Gegend, wo er gewohnt hat, wahrscheinlich eine Schule mit olympischer Sportanlage steht. Ob da auch Literaturliebhaber unterrichtet werden? Es wäre ihm zu gönnen.
Schwach und matt leisten wir uns ein Taxi zum nächsten Ziel: einmal quer durch die Stadt nach Norden zum Künstlerviertel 798, auf dem Gelände einer ehemaligen DDR Fabrik. Eine Stunde Fahrt und 80 Yuan ( 12 Euro) durch starken Verkehr mit Stopp and Go und Hitze, doch dort endlich Nahrung und Ausruhen. Viel Zeit gönnen wir uns nicht, das Gelände ist wieder einmal riesig und will erkundet sein. Inzwischen ist es 4 Uhr nachmittags, immer noch über 30 Grad warm, aber auch hier wieder Bäume, die Schatten spenden. Neben Künstlern und Kunsthandwerkern, Modedesignern ect., die z.T. heruntergekommenen Fabriken arbeiten und leben, gibt’s Boutiquen und Cafés in gut renovierten Häusern. Auch ein In-Viertel, also.
Nach einem Café Latte, weiter. Wir haben noch nicht genug. Dieses Mal mit dem Taxi nur zur nächsten U-Bahn. Dass der Taxifahrer.einen Umweg fährt und wir im Stau auf einer Autobahn landen, ist sehr ärgerlich. Als wir es bemerken, schimpfen wir mit bu hao, nicht gut, dem einzigen Schimpfwort, das wir kennen. Der Fahrer verzieht keine Miene, akzeptiert aber, dass Achim ihm nicht den ganzen Fahrpreis erstattet.
U-Bahnfahren ist hier wie überall für den Ausländer einfach, wenn auch mit den beliebten Kontrollen verbunden. Im Gedrängel der nach der Arbeit Heimfahrenden finden wir den Weg und landen im Zentrum, direkt an der „Seidenstraße“, einem ehemaligen Markt, heute ein Touristenmarkt. Gleich daneben eine Pizzeria, wo wir uns endlich mal wieder unsere heimische „Lieblingsspeise“ gönnen. Achim macht die letzten Fotos in der „blauen“ Stunde vor der Dunkelheit….und Aufbruch gen Hotel… wieder mit Taxi. Sollte doch wieder klappen!
Leider nicht so einfach. Der Taxifahrer, in dessen Wagen wir endlich einsteigen, will den Taxometer nicht einschalten. Den ausgehandelten Preis (50 Yuan) verlangt er sofort. Wir lassen uns darauf ein, aber er will plötzlich mehr. Wir wollen aussteigen. Er versucht, das zu verhindern. Wir schreien ihn an, Achim gelingt es, die Tür zu öffnen, unter Geschimpfe mit bu hau steigen wir aus. Ich knalle die Tür zu, Achim spuckt auf den Boden, seine Verachtung zeigend. Der Fahrer, ein großer bulliger Typ, öffnet seine Tür, läuft auf Achim zu, holt zum Schlag auf seine Brust aus. Achim kann den Schlag durch eine Drehung abmildern, fällt dabei zu Boden. Als er sich mühselig aufrappelt, haben zwei weitere Taxen gehalten, um die Szene zu beobachten. An seinem Arm Blut. Eine circa 10 Zentimeter lange Wunde. Er ziemlich blass. Die Leute schauen von Ferne zu, auch der Täter. Polizei? Nein, rufen wir nicht, sagt mein Liebster, das gibt nur Komplikationen. Hoffentlich ist meine Kamera nicht kaputt, ich habe versucht, sie zu schützen.
Die Taxen sind weitergefahren, wir versuchen, uns zu beruhigen. Leider behauptet der nächste Taxifahrer auch, sein Taxometer sei kaputt. Wir steigen gleich wieder aus. Der dritte endlich ist ein „aufrechter“. So gelangen wir doch zum Ziel. Achims Wunde sieht recht gefährlich aus, wir verarzten ihn. Geht schon, meint er. Erst in der Nacht wird mir die Gefahr bewusst, in der wir gewesen sind. Ich schlafe schlecht und wecke meinen Gatten durch Gewühl.

19. Mai Beijing, morgens

Sitze im Frühstücksraum, der gemütlich mit gepolsterten hellbraunen Sesseln und kleinen runden Tischen ausgestattet ist, in der Mitte unsres kleinen Hotels. Das Hotel wurde im Hutongstil gebaut: um den zentralen Raum herum sind Empfangsraum und Zimmer gelegen, auch im ersten Stock. Das Hotel liegt mitten in einem der übriggebliebenen Hutongs (enge Gassen) Beijings, in der Nähe der alten Kaiserstadt. Wir können nicht mit einem Taxi vorfahren, sondern müssen die Koffer über einen Kilometer lang durch Gassen ziehen. Über 2000 dieser Hofhäuser gab es schon vor 500 Jahren, in sozialistischen Zeiten waren es 6000, z.T. umgebaut, verschandelt, umgenutzt. Viele wurden und werden immer noch abgerissen, einige sind unter Denkmalschutz gestellt, einige werden restauriert und wie unseres neu genutzt. Sehr funktional, sehr einfach und zugleich ästhetisch. Wir haben aufgeatmet, als wir dieses Haus betraten, endlich mal kein neuer oder älter Hochhausprotz. Und wir klagen nicht, dass unser Zimmerchen recht klein ist. Wir liegen nach alt chinesischer Art auf einem Kang, der die ganze Hälfte des Raumes einnimmt. Das Ambiente scheint auch andere Westler anzusprechen. Das Hotel hat viele internationale Auszeichnungrn. Sonst haben wir uns meist nur unter Chinesen bewegt, jetzt sehen wir mehr Langnasen. Und die Leute am Empfang sprechen Englisch.
Also: in der Hauptstadt angekommen.
Den ersten Nachmittag und Abend nutzten wir zur Erkundung der Umgebung, wanderten durch die dicht bewohnten Gassen Richtung Huhau, einem langgestreckten See mit Parkanlagen und Wegen , vielleicht zehn Miuten entfernt. Eine Idylle mitten in der Großstadt. Wir waren – klar – an unsere Alster erinnert, wanderten schon in Gedanken wieder mit unserer Balou dort herum, auch die Chinesen führen hier ihre Hunde aus. Sehr gut erzogen sind die Tiere, dachten wir, laufen oft frei herum, kommen brav zu den Haltern zurück. Dann aber erlebten wir, wie ein Mann auf seinen Golden Retriver, einen ganz lieben alten Hund, mit großer Brutalität eintrat, weil er an etwas geschnüffelt hatte, was dem Herrn nicht gefiel. Noch nie habe ich einen Hund sich danach so „hündisch“ verhalten sehen: er duckte sich und wedelte „ganz lieb“ mit dem Schwanz. Das tat mir in der Seele weh.

18. Mai, Chongqing, Flughafen

Frau Li, 32 Jahre, relativ kräftig, breites, bäurisches Gesicht, hat ihr Deutsch an der hiesigen Fremdsprachenschule gelernt, war Reiseleiterin auf Schiffen, seit sie eine Tochter hat, arbeitet sie als lokale Touristenführerin vor Ort, verheiratet mit einem Automechaniker, sie erzählt viel, bereitwillig, lässt den Fahrer bereitwillig zur Oper auf der anderen Seite des Jialings fahren. Ein riesiges Gebäude, sieht aus wie französische und englische Tanks im 1. Weltkrieg, meinte Achim mit Blick aus der Ferne, mit trüben Stahl verkleidet. Soll ein großes Schiff sein, meinte Frau Li, als wir auf der Terrasse um das Gebäude gehen. Die Stahlverkleidung erweist sich als leicht blaues dickes Glas. Mit Blick über die Stadt zitiert sie: Wir bauen auf und reißen nieder und schaffen Arbeitsplätze wieder. Die Stadt, erzählt sie bei der Weiterfahrt, hat 42,2 % Grünflächen, eingeführt von dem ehemaligen Bürgermeister, er hat auch eingeführt, dass ganz viele Gingkobäume in der Stadt gepflanzt wurden. Der Ficus ist der Stadtbaum, der Hibiscus die Stadtpflanze. Ob er wirklich der Verbrechen und der Morde schuldig ist, frage ich, so wie wir es gelesen haben? Wir wissen es nicht, antwortet Frau Li, wir wissen nicht, was in der politischen Kaste passiert. Zu ihren Mitmenschen, die an ihren Handys zu hängen scheinen, äußert sie sich kritisch. Sie selbst lasse ihr Handy oft im Schlafzimmer liegen, um nicht beständig bei anderen Aktivitäten gestört zu werden. Und wenn sie mit Freunden essen gingen, würden sie die Handys auf den Nebentisch legen. Wer darauf schaut, müsse 10 Yuan zahlen, manchmal käme so die ganze Rechnung zusammen. Ihre Tochter sage manchmal zu ihr, wenn sie zu lange in den Computer schaue, du sollst nicht zu lange spielen, die bekommst schlechte Augen. Das habe sie ihr früher auch gesagt. Frau Li erweist sich auch im Gespräch beim Café Latte am Flughafen als sehr bewusst lebender Mensch. Wenig Kaffee, wenig Tee, meist Wasser trinken sie, auch die Tochter. Die sieht manchmal Dinge bei den Kindern im Kindergarten und möchte sie haben, nein, sagt die Mutter, man bekommt nicht alles,
Buchtitel, im Buchladen hier: Queen yourself, Why we buy, Out of the Crisis,

17. Mai, Chongqing

Nur ein kleiner Ausflug mit der U-Bahn nach Ciqikou (Porzellanhafen) am Jailing-Fluss, einem Vorort der Stadt, auch kleines Chongqing genannt. Hier in der Altstadt, z.T. eine Einkaufs- und Essmeile für chinesische Touristen, kann man noch Häuser aus der Mingzeit (14.- 17. Jahrh.) erleben. Wir wandern abseits des Besucherstroms und entdecken eine klassische Malwerstatt, in der ein alter chinesischer Meister, lao tse, 5 ältere Leute in klassischer Malkunst unterrichtet. Die Wände, an denen sehr schöne Rollbilder mit Landschaften hängen, sind feucht, es riecht schimmelig, aber mit welcher Freude uns die Alten alles zeigen! Um sie herum werden die Häuser, meistens richtige Bruchbuden, schon abgerissen. Wir trinken später noch Tee in einem mit traditionellen alten Möbeln eingerichteten 3 stöckigen Teehaus. Unten ziehen die Massen vorbei, hier ertönt klassische Erhu-Musik aus einem Lautsprecher. So ähnlich werden auch viele andere Teile Chongqings noch in den 30er Jahren ausgesehen haben. Ich erinnere Berichte von Han Suyin, einer chinesischen Autorin, die in ihrer Autobiograhie über die Luftangriffe der Japaner auf Chongqing schreibt und die Feuerbrünste erwähnt, die ganze Gassen mit Holzhäusen zerstörten. Dass in den kommunistischen Jahren nichts für den Erhalt der übriggebliebenen Stadteile getan wurde, ist unübersehbar. Gruselig die Wohnverhältnisse. Da scheint wirklich nur Abriss zu helfen. Doch mit dem Abriss verändern sich offensichtlich noch nicht die Lebensgewohnheiten der Leute. Wie schon beschrieben: Wohnkultur scheint es kaum zu gehen.

16. Mai von Chonqing nach Dazu

Mein Achin scheut keine Unternehmung, also buchen wir eine Reise nach „Dazu“,wo buddhistische Mönche einzigartige Steinskulpturen in Felswände gemeißelt haben. Dass der Ort 160 Kilometer von Chongqing entfernt liegt, realisiere ich erst im Bus voller chinesischer Touristen inclusive einer Amerikanerin, die zufällig neben uns sitzt, sich als vielgereiste Volleyballspielerin und -Trainerin outet und einiges aus ihrem Leben preisgibt. Dass die Unternehmung eine Art „Butterfahrt“ wird, erster Stopp in Chino-Retro-Stil Ladenzeile, zweiter Stopp bei einem Messerverkauf mit anschließendem Mittagsmahl, macht mich den Statuen nicht gewogener. Dass wir schließlich in einem Weltkulturerbe landen, ist zwar eine neue Erkenntnis, aber nicht gerade tröstlich. Die Chinesen haben nach dieser Anerkennung den Eingang so aufgemotzt, weite, gepflasterte Wege, pompöse Eingangshallen, pompöse Gartenanlagen, sodass das Erbe einem ziemlich mickrig vorkommen könnte. Aber wir weigern uns, diesen Gedanken zuzulassen und bewundern die Vielzahl der farbigen Figuren, die z. T. über 1000 Jahre alt sind, und alles, was sie erzählen. Wiederum sind die Geschichten über die Hölle und die zu erlebenden Qualen szenenreicher als die über den „Himmel“. Das erzählt wohl, dass sie der Erziehung des Volkes dienten. Weniger abstrakt als der klassische Buddhismus beziehen sie sich auch auf Vorstellungen des chinesischen Volksglaubens. Besonders beeindruckend auch ein schlafender, über 20 Meter lange Buddha.
Immerhin, der Wettergott ist uns gnädig, herrlicher Sonnenschein, Warmwasserbereitung meist im Schatten unter Bäumen, trotzdem erreichen wir das Hotel leicht gerädert, der Busfahrer musste manchen Stau überwinden. Zum Abschluss des Tages noch zum Pipaberg, dem höchsten Berg der Stadt mit einem riesigen Park. Hier verlustieren sich die Leute, die in den umliegenden Hochhäusern leben. Ein Blick in die Fenster dieser Häuser zeigt wieder einmal: die Chinesen haben wenig Wohnkultur. Überall Kartons, Wäschestücke, sogar Müllsäcke. Sie halten sich deshalb vielleicht in der Freizeit so gerne draußen auf. Und ihre Parks sind wirklich schön. Auf dem Pipaberg mit Blick in den Sonnenuntergang lausche ich zufrieden über das Erlebte dem Vogelgesang.

15. Mai, Chongqing

War schreibfaul in den letzten zwei Tagen, aber nicht wegen des Wetters, das uns erstaunlicherweise gut gesonnen ist. Kein Regen, keine feuchte Hitze wie üblich. Doppeltes Glück heißt „Chongqing“übersetzt. Hier fließen zwei Flüsse zusammen, auf der Landzunge dazwischen und an den Ufern ringsum wuchert die Megacity, die im Kern über 8 Millionen Einwohner, nach offizieller Rechnung über 30 Millionen hat, weil man die Vorstädte und das Landgebiet drumherum mitzählt. Die Anreise auf dem Jangzi bietet mal wieder eine großartiges Panorama. Aber wie das so ist mit den Großartigkeiten: man gewöhnt sich daran und findet sie alltäglich. Überraschend war dann eher, dass wir zu Fuß fast über 300 Meter über den Yangzi gehen mussten, über ganz einfache, schwimmende Pontons zur Kaimauer. Dann war noch eine hohe Treppe zu erklimmen, wir gönnten uns – wie die meisten – einen „Kuli“ (bittere Last“), einen Lastenträger, der unsere beiden Gepäckstücke rechts uns links mittels Tau an einer langen Stange befestigte und die Stufen hochschleppte. Oben Geschrei und Gewimmel, endlich erscheint Frau Han, eine etwas nervöse Dame, aber sehr hilfreich. Weiteres Glück: Unser Hotel ist wieder einmal super gelegen, am Rande des Zentrums, mit Blick auf den Jialing-Fluss, kurz bevor er in den den Yangzi mündet, unmittelbar in einer Anlage, die den für die Stadt früher tyischen hölzernen Pfahlhäusern nachgebaut wurde. Sehr touristisch, abends bunt beleuchtet und mit Geplapper der Besucherströme erfüllt. Unser Zimmer hat sogar einen Balkon, wir blicken auf eine von zahllosen Brücken, die erst im letzten Jahrzehnt gebaut wurden, auf die Hochhauskulisse auf der anderen Seite des Flusses.
Erster Gang in die Fußgängerzone der Innenstadt. Zwischen den Skryscapern, in denen die nobelsten Firmen der ganzen Welt ihre Luxusgüter präsentieren, zwei Reihen von alten Banyanbäumen, Ficus banyan, sagte Frau Han, die großbätterige Sorte. Um die Bäume herum ruhen sich die Leute auf hölzernen Bänken aus, klönen, beobachten die vorbeiflanierenden Shopper oder sie versammeln sich samt ihren Hunden, kleinen Mischlingen oder großen Huskies ( sehr beliebt) abends – wenn die Häuser ringsum bunt beleuchtet sind. Eine Megacity mit Flair, das finden wir auch später.
Nachmittags lassen wir uns zur großen Halle des Volkes ( 1951-1954 in Anlehnung an klassische chinesische Architektur für den lokalen Volkskongress erbaut) und zum neuen Museum (2003) fahren. Der große Platz dazwischen, mit einer Parkanlage und wiederum vielen Banyanbäumen, Bänken, einem Kiosk ect. wird Von der Bevülkerung genutzt. Neben einem Baum versammeln sich alte und jüngere Musiker, musizieren mit klassischen chinesischen Instrumenten, Geige und Querflöte, Leute hören zu, summen mit oder hocken auf Stühlen, spielen Karten, klönen. Unweit singt eine Sängerin ins Micro, begleitet von anderen Musikern und einem Radio. Was für eine fröhliche Versammlung.
Nachdem Achim zufrieden ist mit den Fotos, die er machen könnte, ziehen wir uns ins stillere Museum zurück, zuerst in das Café mit gemütlichen Sofas. In den Bücheregalen entdecke ich einen Fotoband über die Geschichte der Stadt. Er dokumentiert auch die Zeiten, in denen mein Vater hier lebte (1938-1941), schwierige Zeiten. Tschiang Kai Sheks Nationalregierung hatte nach der Eroberung Nankings durch die Japaner den Regierungssitz navh Chongxing verlegt. Die Kommunisten, die gemeinsam mit den Nationalen gegen die Japaner kämpften, hatten hier Posten, deutsche Firmen versuchten weiterhin mit den Chinesen Geschäfte zu machen, obgleich sich Hitler mit den Japanern verbündet hatte. Und die Japaner versuchten, diese Stadt einzunehmen, sie bombardierten. 1941 – nach Pearl Harbour – unterstützten die Amerikaner die Chinesen, lieferten kostenlos Waffen und halfen bei der Flugabwehr. Für Deutsche wurde es gefährlich.
Auch die Fotoausstellung im Museum über diese Zeit ist sehr interessant. Wir fragen uns jedoch, warum die erläuternden Texte nur in Chinesisch gehalten sind. In allen anderen Ausstellungssälen (über die Drei Schluchten und die 60 nationalen Minderheiten) ist alles gut ins Englische übersetzt. Wollen uns die Chinesen ihre Version dieser Zeit vorenthalten?

Wir bemühen uns, ihnen nichts schuldig zu bleiben – auch die Erfahrung des „Feuertopfes“ nicht. Ich überrede Achim, gleich am ersten Abend zu dem hiesigen Nationalessen in einem recht hübschen Lokal mit großartiger Sicht über den…Alles wunderschön angerichtet: vor jedem ein kleines Töpfchen mit einer Scheidewand zwischen roter und weißer, sprich scharfer und weniger scharfer Brühe, dazu Platten mit Pilzen, Gemüse, Lambfleisch und Hackröllchen zum Eintunken. Oje! Obgleich ich doch gerne scharf es… es brennt in meinem Mund wie Feuer, nicht nur, wenn ich meine Stückchen aus der scharfen Brühe fische. Tassen von Heißwasser helfen ein bisschen, das Bier schmeckt gar nicht! Feuertopf noch einmal? Nein danke. Achim lächelt in stillem Triumph vor sich hin, während er vor allem aus der weißen Soße angelt. Ich war noch nie für scharfes Essen, meint er.