19. Mai, Rückblick

Ein ereignisreicher, anstrengender Tag. Und nicht nur das….
Morgens leicht gerädert vom harten Kang/Futonbett und der Klimaanlage wandern wir nach dem Frühstück durch unseren Richtung Innenstadt. Der Himmel ist klar, die Sonne scheint, es wird über 30 Grad warm, war auf dem Wetterfoto auf einem Bildschirm im Hotel zu lesen. Wir versuchen, im Schatten zu gehen. Kommen an offenen Türen vorbei, schauen in Werkstätten, vermüllte Wohnräume, Fahrradlager, registrieren wieder einmal, dass es überall öffentliche Toiletten gibt, meistens von Toilettenfrauen bzw. Männern betreut, meistens Stehklos, recht sauber, Papier ist mitzubringen, alles andere kostenlos, und dass in den Gassen viele Autos geparkt werden, mit Pappen als Sonnenschutz an den Scheiben und vor die Rädern. Bald erklingeln Fahrradrikscha- Fahrer den Weg für ihre „Kutschen“, in denen sie zwei Personen befördern können – als besonderer Ausflug für Touristen angeboten und genutzt.
Wir nähern uns einem beliebten Touristenziel: Der Residenz des Prinzen Gong, eins der größten privaten Anwesen in Beijing, mit seinen zahllosen Gemächern, Innenhöfen, Gärten, Bäumen, Hügeln, Grotten ein weitläufiges, gut erhaltenes und gepflegtes Gelände,das Einblick in die Lebensgewohnheiten der obersten Hofbeamten der Qing-Dynastie gibt. Kaum zu glauben:als zweite Lektüre habe ich einen der Klassiker der chinesischen Literatur eingepackt: Der Traum der roten Kammer ( Übersetzung Franz Kuhn, erschienen im Inselverlag 1948, aus dem Bücherregal der Eltern). Die Geschichte soll in diesem Palast spielen! Ich lese schon seit Lushan darin, meistens nur wenige Seiten vor dem Einschlafen, meine Vorstellungen werden in die Realität erlebbar. Nur wenige Räumlichkeiten sind im Stil der Zeit möbliert, einige stellen in Vitrinen Kostbarkeiten aus, andere werden als Shops genutzt. Nach dem Besuch mit Taxi zu der Stelle, wo wir mit dem Fahrer von Chinatours verabredet sind. Er wird uns in die Gegend bringen, in der auf der „Pappelinsel“ ein Herr Hundhausen bis 1954 seinen Pappelinselverlag betrieb, chinesische Gedichte, Märchen und Erzählungen in Deutsch publizierte, aber auch eigene Einfälle und Notizen (mehrere der Bücher im Regal der Eltern). Ich nehme an,dass mein Vater ihn bei seiner Beijing-Reise Mitte der 30er Jahre besuchte. Renate Jährling von StuDeO (Studienwerk deutsches Leben in Ostasien) hat mir Unterlagen zur Lage der Insel zugeschickt, sie soll sich außerhalb der westlichen Stadtmauern befinden, die Anfang der 50er Jahre für breite Straßen abgerissen wurden. Abriss und Neubau hat hier seitdem wohl oft gewirkt: wir wandern durch gepflegte Parkanlagen mit Weiden an einem ewig langen Kanal, mit Kaimauern, die am breiten Rand Fischern Sitzplatz bieten. Alles wird wohl erst zur Olympiade 2008 angelegt worden sein. Auch die 6 spurige Schnellstraße daneben und die meisten der Hochhäuser drumherum zeugen nicht von hohem Alter. Wir biegen ab, wandern über eine Brücke, wandern an einem schlafenden Alten vorbei, der an seinem Fahrrad einen Beutel voller kleiner Käfige hängen hat, in denen Grillen laut gegen den Verkehrslärm ansingen, wandern weiter durch recht gepflegt wirkende Wohn- und Geschäftsviertel, nicht nur auf der Suche nach einer Pappelinsel, sondern nach einem Lokal oder Imbiss, wo wir die asphaltmüden Füße ausruhen und den Hunger stillen können. Vergeblich. Die Vorstellung, Hundhausens Paradies finden zu können, geben wir bald auf. Wir trösten ihn und uns mit dem Gedanken, dass in der Gegend, wo er gewohnt hat, wahrscheinlich eine Schule mit olympischer Sportanlage steht. Ob da auch Literaturliebhaber unterrichtet werden? Es wäre ihm zu gönnen.
Schwach und matt leisten wir uns ein Taxi zum nächsten Ziel: einmal quer durch die Stadt nach Norden zum Künstlerviertel 798, auf dem Gelände einer ehemaligen DDR Fabrik. Eine Stunde Fahrt und 80 Yuan ( 12 Euro) durch starken Verkehr mit Stopp and Go und Hitze, doch dort endlich Nahrung und Ausruhen. Viel Zeit gönnen wir uns nicht, das Gelände ist wieder einmal riesig und will erkundet sein. Inzwischen ist es 4 Uhr nachmittags, immer noch über 30 Grad warm, aber auch hier wieder Bäume, die Schatten spenden. Neben Künstlern und Kunsthandwerkern, Modedesignern ect., die z.T. heruntergekommenen Fabriken arbeiten und leben, gibt’s Boutiquen und Cafés in gut renovierten Häusern. Auch ein In-Viertel, also.
Nach einem Café Latte, weiter. Wir haben noch nicht genug. Dieses Mal mit dem Taxi nur zur nächsten U-Bahn. Dass der Taxifahrer.einen Umweg fährt und wir im Stau auf einer Autobahn landen, ist sehr ärgerlich. Als wir es bemerken, schimpfen wir mit bu hao, nicht gut, dem einzigen Schimpfwort, das wir kennen. Der Fahrer verzieht keine Miene, akzeptiert aber, dass Achim ihm nicht den ganzen Fahrpreis erstattet.
U-Bahnfahren ist hier wie überall für den Ausländer einfach, wenn auch mit den beliebten Kontrollen verbunden. Im Gedrängel der nach der Arbeit Heimfahrenden finden wir den Weg und landen im Zentrum, direkt an der „Seidenstraße“, einem ehemaligen Markt, heute ein Touristenmarkt. Gleich daneben eine Pizzeria, wo wir uns endlich mal wieder unsere heimische „Lieblingsspeise“ gönnen. Achim macht die letzten Fotos in der „blauen“ Stunde vor der Dunkelheit….und Aufbruch gen Hotel… wieder mit Taxi. Sollte doch wieder klappen!
Leider nicht so einfach. Der Taxifahrer, in dessen Wagen wir endlich einsteigen, will den Taxometer nicht einschalten. Den ausgehandelten Preis (50 Yuan) verlangt er sofort. Wir lassen uns darauf ein, aber er will plötzlich mehr. Wir wollen aussteigen. Er versucht, das zu verhindern. Wir schreien ihn an, Achim gelingt es, die Tür zu öffnen, unter Geschimpfe mit bu hau steigen wir aus. Ich knalle die Tür zu, Achim spuckt auf den Boden, seine Verachtung zeigend. Der Fahrer, ein großer bulliger Typ, öffnet seine Tür, läuft auf Achim zu, holt zum Schlag auf seine Brust aus. Achim kann den Schlag durch eine Drehung abmildern, fällt dabei zu Boden. Als er sich mühselig aufrappelt, haben zwei weitere Taxen gehalten, um die Szene zu beobachten. An seinem Arm Blut. Eine circa 10 Zentimeter lange Wunde. Er ziemlich blass. Die Leute schauen von Ferne zu, auch der Täter. Polizei? Nein, rufen wir nicht, sagt mein Liebster, das gibt nur Komplikationen. Hoffentlich ist meine Kamera nicht kaputt, ich habe versucht, sie zu schützen.
Die Taxen sind weitergefahren, wir versuchen, uns zu beruhigen. Leider behauptet der nächste Taxifahrer auch, sein Taxometer sei kaputt. Wir steigen gleich wieder aus. Der dritte endlich ist ein „aufrechter“. So gelangen wir doch zum Ziel. Achims Wunde sieht recht gefährlich aus, wir verarzten ihn. Geht schon, meint er. Erst in der Nacht wird mir die Gefahr bewusst, in der wir gewesen sind. Ich schlafe schlecht und wecke meinen Gatten durch Gewühl.

Ein Gedanke zu „19. Mai, Rückblick“

  1. Ich sitze gerade mit Dieter auf dem Weg zurück nach Hamburg und habe ihm den 19. vorgelesen. Spannend! Gut das ihr heil oder halbwegs heil davon gekommen seid! Gute Besserung lieber Achim!

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